Ljudmila Marz, Leiterin der Abteilung Skulptur des 20. Jahrhunderts der staatlichen Tretjakow-Galerie, spricht mit Pjotr Dik
«Aus einem Gespräch der Kunstwissenschaftlerin Ljudmila MARZ mit dem Künstler Peter DIK...»
L.M. Sie verwenden den Begriff "zusammengepreßtes Licht". Was verstehen Sie darunter? Ist das ein plastischer Terminus oder etwas, was für den Menschen eigen ist?

P.D. Sowohl als auch. Auf den Menschen angewandt ist es ein inneres Licht, das Licht der Güte und Liebe, das, was ermöglicht, dem Abgrund der Finsternis zu widerstehen. In einem Kunstwerk ist es die Plastik des Lichts, das im übrigen unendlich vielfältige Schattierungen haben kann: vom Schweigen und von der Demut bis zur angespannten Dramatik.

L.M. Ist dieses Licht schon vor langer Zeit in Ihren Arbeiten aufgetaucht?

P.D. Auf die eine oder andere Weise und Abstufung war es schon immer zugegen. Doch klarer begann sich seine Qualität in den Arbeiten Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre zu entwickeln.Und gekoppelt war das mit dem Übergang vom Naturmotiv zum plastischen Ausdruck des inneren Zustands.

Zu der Zeit wurde mir ganz deutlich, daß Kunst die Fähigkeit zu lieben ist, offen für die Welt zu sein. Gerade kraft dieser Fähigkeit vereint die Kunst die Menschen durch die höchste schöpferische Freude. Ich will versuchen, dies genauer auszudrücken. Als mir klar wurde, daß Haß trennt, während Liebe ver­eint, weil sie den Menschen öffnet, begriff ich auch die Worte Alexander Bloks, daß nur der Verliebte das Recht auf den Rang eines Menschen habe. Dies gilt im weiten Sinne, im allerweitesten. Nur durch die Fähigkeit zu lieben kann ein schöpferischer Anfang erreicht werden, und unser Leben gewinnt in dem Maße Sinn, in dem wir fähig sind, uns schöpferisch zu betätigen. Hieraus entsteht das, was mein Verhält­nis zur Kunst prägt, weniger als zu einem Beruf, vielmehr als zu einem Geisteszustand. Natürlich gibt es dabei professionelle Kriterien der Beurteilungen, des Standpunkts der Einschätzung. Doch zu dieser Auffassung, zu einer solchen Sichtweise war ich lange und beschwerlich unterwegs.

L.M. Für den Betrachter wäre es interessant zu erfahren, wo und worin die Quellen Ihrer Kunst zu finden sind. Was hat auf Ihre Prägung als Künstler eingewirkt?

P.D. Es ist schwer, auf eine solche Frage eindeutig zu antworten. Offensichtlich ist vieles an Grund­lagen meiner Wahrnehmung ursprünglich doch durch die Natur des Landes geprägt worden, wo ich ge­boren wurde und meine Kriegskindheit verbrachte.

Ich bin in der Altaisteppe geboren. Ein uferloses Meer von Reihergras und ein gewaltiger Himmel. Der Wind spaziert über die Steppe, das Reihergras breitet sich aus wie Wellen, die über das Meer dahin-laufen. Jedes Element, das in diesem Raum auftauchte, wurde als bedeutend aufgefaßt, — ein Gefühl gleichsam kosmischen Ursprungs. Meine Kindheit verlief sozusagen im krassen Kontrast zu dem, was die Natur dieses erstaunlichen Landstrichs ausmacht. Das erste, woran ich mich aus diesen Jahren erinnere, ist der Tod meines Vaters. Erst als Erwachsener erfuhr ich, daß er Ende 1942, an Tuberkulose erkrankt, nach Hause zurückgekommen war. In jener Zeit war auch meine Mutter, entsprechend dem bekannten Befehl Stalins zur totalen Mobilisierung aller Deutschen in der UdSSR, in die Arbeitsarmee gepreßt worden. Mich, gerade drei Jahre alt, mußte meine Tante aufnehmen, die schon zwei eigene Kinder hatte.

Bis meine Mutter 1946 zurückkehrte, lebte ich bei der Tante. Das Leben in den ersten Nachkriegsjahren war um keinen Deut besser als während des Krieges: der gleiche Hunger, die gleiche Notwendigkeit, ums Überleben zu kämpfen. Und überdies ein Leben unter der Aufsicht der Kommandantur.

Meine Reaktion auf all das, was mich umgab, war ein starker Widerstand. Ich fühlte das Falsche, ich konnte nicht glauben, daß meine Eltern verschleppt worden waren, weil sie etwas Schlechtes getan haben sollen, und daß ich mich für sie und dafür schämen sollte, daß ich Deutscher war. Das ging einfach nicht.

Diese sich gegenseitig ausschließenden Ausgangssituationen prägten meine Wahrnehmung, die für lange Zeit die Anspannung in meinen Arbeiten bedingte, jene einseitige, eindeutige Reaktion, die man sogar noch nach meinem Abschluß an der Stroganow-Hochschule als überschüssige Dramatik oder auch als globale Tragik definierte.

Als ich bereits in Moskau studierte, erlebte ich mit der Zeit diesen Zustand als Krankheit, und er ließ mich lange nicht los. Das war eine gewaltige Zeitspanne, das waren viele Jahre meines Lebens. Allmäh­lich begann ich durch die Resultate meiner Arbeiten, durch die Reaktion der Betrachter, mir meiner selbst schärfer bewußt zu werden, auch andere Dinge wahrzunehmen. Ich begriff bereits, daß mich die leben­dige Kultur und das lebendige Leben interessieren, daß jenes Arsenal von ideologischen Stereotypen, die uns von außen oktroyiert wurden, danach strebt, unser ganzes Leben auf das Niveau des System-Menschen zu reduzieren.

Ich fühlte, daß das Unverhüllte, das Einseitige, die Tragik meiner Wahrnehmung das Vordringen in tiefere Geheimnisse behinderten.

Doch es ist eine Sache, einen Sachverhalt zu verstehen, jedoch eine ganz andere, sich innerlich zu verändern, sich eine andere Weltanschauung anzueignen.

Die Spaltung der Welt in einen freien und einen unfreien Teil ist bedingter Natur. Häufig tauschen sie nämlich die Plätze. Der Grenzstreifen zwischen ihnen verläuft auch in unserem Bewußtsein. Und an die­sem Grenzstreifen in meinem Bewußtsein mußte ich arbeiten. Ich wollte meine eigene Sicht erlangen, meine Selbständigkeit, und lernen, alles mit den eigenen Augen zu betrachten. Deshalb bin ich bereits als Erwachsener zum Studium nach Moskau gefahren, wo mich Museen, Ausstellungen, Bibliotheken und viele Künstler anzogen.

Aber mir war klar, daß ich nichts forcieren konnte, das wäre sinnlos gewesen. Die überschüssige Drama­tik, die Anspannung meiner Wahrnehmung, ließen, wie jede schwere Krankheit, nur ganz allmählich nach.

Ich habe mich noch Immer nicht vollständig befreit von der Anspannung. Und noch immer gibt sich mein dramatischer Ursprung zu erkennen. Ich weiß nicht, ob gut oder schlecht, aber es ist einfach so. Vielleicht müßte man dies oder jenes zurückhalten, verbergen. Was haben die Menschen schon davon, wo doch das Leben auch so nicht zum Lachen ist. Aber ich bin Künst­ler, und ich ziehe es vor, so zu arbeiten, wie ich es spüre, denke, erlebe. In der Kunstgeschichte begegnen einem bekanntermaßen nicht eben selten Schreckensthemen. Mitunter waren sie durch Mitleid bedingt, nicht durch Auskosten des fremden Schmerzes, obwohl auch das vorkam. Für den Betrachter ist das keine erbauliche Reise, sondern etwas anderes, dessen Wahrnehmung Mut erfordert. Ich kann optimis­tische Tragödien nicht ausstehen. Meiner Meinung nach sind das keine Tragödien, sondern nichts als Tragödienspiele. Das Tragische ist im menschlichen Sein selbst existent. In den Traditionen der altrussi­schen Kunst gibt es das Thema der Überwindung des Leidens und daran anschließend der Demut und der Ruhe. An diesem Punkt bin ich noch nicht angelangt.

L.M. Setzen en wir doch das Thema ihrer Lehrer fort. Sie haben bereits begonnen, von der altrussis­chen Kunst zu sprechen.

P.D. Es wäre zu wenig, wollte ich nur sagen, mir gefalle die russische mittelalterliche Kunst (die Ikonen, Fresken); vielmehr übt sie auf mich eine große Wirkung aus und entfaltet sich für mich nach Maßgabe meiner Bereitschaft, sie aufzunehmen. Für mich ist die innere Ausrichtung dieser Kunst wesentlich, ihre Hinwendung zu den eigentlichen Grundlagen des Seins, ihr Bekenntnischarakter im ganzen. Dies ist eine gewaltige Lektion für uns heutige Menschen. Uns gebricht es so an dem friedlichen Geist, dem die Bemü­hungen der mittelalterlichen Meister so zustrebten und in dem sie so weit vorangekommen sind. Ich kann nicht umhin, eine weitere wichtige Eigenschaft dieser Kunst zu nennen: Sie ist weniger Ausdruck des Willens ihres Schöpfers als vielmehr seiner Entdeckung.

Offensichtlich kraft der Natur meiner Wahrnehmung steht mir Theophanes der Grieche näher als kaum ein anderer Künstler. Worin besteht diese Nähe? Darin, daß er auf die vergängliche Welt nicht von Berges-

gipfeln herabblickt und beobachtet, wie dort geackert und gelitten wird. Er ist einer von uns, ein Leidens-genosse. Gleichzeitig hat er einen gewaltigen Gesichtskreis, einen gewaltigen Betrachtungshorizont, ihm ist es gegeben, viel zu sehen und wahrzunehmen. Und in ihm ist die Trauer dieser Kenntnisse und die Freude an diesem Leben, das, was ich mystisches Sehen nenne, das, was ich auch als "zusam­mengepreßtes Licht" bezeichne.

Das zu Theophanes dem Griechen Gesagte ist keine nichtige Frage. Mir selbst ist es wichtig, mich unablässig als Teilnehmer der Ereignisse zu fühlen. Es ist meiner Meinung nach schlechterdings läster­lich, unbeteiligt das zu betrachten, was um einen herum vorgeht. Jemand hat einmal gesagt, es sei ein­facher, an den Problemen der Menschheit zu leiden, als der eigenen Mutter etwas Gutes zu tun. Mitleid ist vor allem eine Tat.

Es gab eine Periode, wo die Sprache der Ikonen für mich als Künstler von großem Interesse war. Der Moment, als ich zur Wahrnehmung der Dimension der Ikonen gelang, als ich begriff, daß sämtliche di-mensionale Aufgaben auf der Ikonenfläche mittels der Lichtsättigung der Farbe gelöst werden, wurde für mich zu einer Etappe der Aneignung einer plastischen Sprache, einer Annäherung an die Plastik, die es mir gestattete, ein Bild nicht als ein Fenster zur Welt, sondern als eine selbständige Welt zu betrachten, die nicht buchstäblich in Wechselbeziehung zur dreidimensionalen visuellen Fläche steht, sondern auf­gebaut ist unter Berücksichtigung der Zweidimensionalität der Fläche eines Blattes in Übereinstimmung mit sejnen Bedingtheiten.

Wehn wir von Lehrern sprechen, kann ich nicht umhin, mit einem besonderen Gefühl der Dankbarkeit den Pädagogen der Swerdlowsker Kunsthochschule, Gennadij Sidorowitsch Mossin, zu erwähnen. Er war ein überzeugter Künstler und Mensch. Bei ihm konnte man lernen, er übte keinen Druck aus, er war zu sehr beschäftigt mit seinem Werk. Als Persönlichkeit hat er auf uns durch seine ungewöhnliche Ganz-heitlichkeit im Tun, in der Haltung und im Denken einen gewaltigen Eindruck gemacht. Ein Mensch, der alles auf sich genommen hat, so daß ich ihn manchmal mit einem Kamikaze verglich.

Für mich war er ein herausragendes Beispiel für Ganzheitlichkeit in staatsbürgerlicher wie menschli­cher Hinsicht.

L.M. Welche Künstler stehen ihnen nahe?

P.D. Morandi. Ihm ist es, wie ich meine, gelungen, ein sehr ganzheitliches Künstlerleben zu führen. Für mich ist das außerordentlich anziehend. Ich habe schon früh Interesse für die japanische Kunst entwickelt. Schon zu Zeiten der "Stroganowka" interessierte ich mich dafür, was ich damals davon sehen — Utomaro, Chokusaj, den Meister der Farbgravüre, Ukiee — und von Japan lesen konnte. Ich interessierte mich für japanische Philosophie und Poesie. Ich kann mich nicht damit brüsten, ein Kenner der japanischen Poesie zu sein, doch deren Hokkus und Tankas, diese kurzen Drei- und Vierzeiler, stehen mir nahe. Nahe wegen ihrer Kürze, der Ökonomie der Ausdrucksmittel und der Weite ihrer Welt und menschlichen Gefühle.

Über der Welle des Bachs

Fängt, fängt eine Libelle

Den eigenen Schatten.



Das ist doch ein Augenblick der Ewigkeit! Gleichsam auf uns bezogen gesagt.

L.M. Wer steht Ihnen in der Poesie, in der Musik nahe?

P.D. Ich liebe die Poesie und die Musik. Aber ich leide an einem katastrophalen Zeitmangel, und ich fühle mich auf diesen Gebieten als Dilettant. Unter den Dichtern stehen mir Zwetajewa, Achmatowa, Pas­ternak und Mandelstam nahe, deren Rezeption sich bei mir in vielerlei Hinsicht dank meinem Freund,dem Dichter Wladimir Kowalenko, geformt hat, wofür ich ihm unendlich verbunden bin. Zum Thema Musik und Musiker habe ich ein eher unbewußtes und sporadisches Verhältnis.

L.M. Ich denke, daß ein aufmerksamer Leser schon viel über Sie erfahren hat, darüber, was für ein Mensch hinter den Bildern steht, und das, glauben Sie mir, kann helfen, Ihre Kunst besser zu verstehen. Jetzt sollten Sie vielleicht, wenn möglich, etwas darüber erzählen, wie Sie arbeiten, über Ihr Material, über Ihre plastische Sprache, über den Entstehungsprozeß eines Bildes. Für den Betrachter ist das immer ein Mysterium.

P.D. Ein Mysterium wird es auch bleiben, gleichviel, wie lange ich darüber auch sprechen mag. Es ist unmöglich, adäquat mit Worten das wiederzugeben, was seine eigene Natur und sein eigenes Element hat. Ich weiß selbst nicht bis ins Letzte, wie dies vonstatten geht. Um dennoch zu versuchen, auf Ihre Fragen zu antworten, möchte ich eher das bereits Vollendete kommentieren, nachvollziehen, wann eine Arbeit entstand, sie gewissermaßen im nachhinein analysieren. Zu den Pastellen bin ich nicht sofort gekom­men. Am Anfang stand die "Stroganowka", die Abteilung für künstlerische Metallbearbeitung. Nach Ab­schluß des Studiums an diesem Institut ging ich einige Jahre diesem meinem Beruf nach. Allerdings wur­de mit der Zeit für mich die Graphik dominierend. Zu Beginn war es die Monotypie, dann kamen Pastell, Kohle.

Ich gelangte bei dem Material an, das ich immer bei mir hatte.

L.M. Daran, wie Sie mit der Masse, den Umfangen arbeiten, wie Sie auf dem Blatt eine Form kneten, spürt man die Hand und das Auge eines Künstlers, der sich mit Bildhauerei beschäftigt hat.

P.D. Lange Zeit interessierte mich das Material, ich suchte nach einer plastischen Sprache und Aus­drucksform, rang um Professionalität in der Kunst. Doch allmählich kam ich zur Auffassung der Unteil­barkeit der persönlichkeitsbestimmten Wahrnehmung der Welt und Ausdrucksmitteln wie zu einer Bedin­gung für die Herausbildung eines künstlerischen Selbstbewußtseins.

Es kam der Moment, wo ich begriff, daß, wenn man eine künstlerische Ausdruckssprache bewußt sucht, man sie nicht findet, daß aber, wenn man inmitten der menschlichen Probleme lebt, irgend etwas in dir einen Ausweg sucht und von selbst die Form findet. Ich bin zu dieser Überzeugung gelangt, ich kann sie nicht beweisen und will auch mit niemand darüber streiten.

L.M. Wir beide haben viel darüber gesprochen. Meiner Meinung nach kann man zu einem solchen Verständnis nur dann kommen, wenn man auf einem gewissen Niveau die Elementargrammatik und-spräche künstlerischen Ausdrucks beherrscht. Wie war das bei Ihnen?

P.D. Ich denke, daß uns von Anfang an ein Sinn für Rhythmus, Sprache und Raum innewohnt. Achten Sie doch einmal darauf, wie Kinder organisch und bisweilen talentiert mit einem Blatt Papier umgehen. Es ist wichtig, daß im Prozeß der Ausbildung diese Eigenschaften nicht verlorengehen. Doch kehren wir zu unserem ersten Thema zurück. Ich habe plötzlich begriffen' genauer gesagt gefühlt, daß durch mich et­was hindurchgeht, wenn ich offen für die Welt bin. Und ich freue mich darüber, doch meine Sorge gilt dem, gestimmt zu sein, ein Instrument zu sein, fähig, auf die geringsten Vibrationen, Erschütterungen der Welt zu reagieren.

L.M. Wann beginnt die Arbeit?

P.D. Das ist unmöglich genau zu sagen. Ich betrachte die Welt jeden Tag, reagiere unablässig, ich ar­beite, nicht unbedingt mit dem Bleistift. Wenn ich gehe, arbeite ich die ganze Zeit. Dies geschieht unab­hängig von meinem Willen, ganz von selbst. Es kann unterschiedlich lange dauern, bis es, wie ich es nenne, zu einem Kurzschluß kommt, wenn man plötzlich — sieht. Nicht fühlt, sondern sieht. Dann be­ginne ich sofort mit der Arbeit. Natürlich findet man während der Arbeit etwas, man entdeckt etwas, aber das ist schon wieder eine andere Sache. Die Arbeit verläßt die Verhaftetheit im Genre, sie nimmt eigene Form und Gestalt an. Das läßt sich dann nicht mehr in Genre und Szene fassen, sie gehört bereits nicht mehr der Alltagsordnung an, und wenn sie auf die Ebene des Alltags gelangt, so ist das gut.

Ein Blatt ist ein Kosmos, ist Unendlichkeit. So Wie man es berührt, so wird es einem auch antworten. Wie du ihm, so es dir. Den Dialog mit dem Blatt mußman einfühlsam und aufmerksam, wie mit dem Lieblingsmaterial, führen. Es ist ein lebendiger Organis­mus, mit dem man in Kontakt tritt. Die Arbeit beginnt ein eigenes Innenleben zu führen, und ich weiß im vorhinein nicht, wie es ausgeht. Alle Elemente beginnen zusammenzuwirken, es entsteht ein eigenes Element des Raums, der Plastik, des Rhythmus, der Farbe, des Lichts, ein Weg zu dem, was ich Organik nenne. Wenn die Arbeit ihr eigenes Gesicht annimmt, beginnt sie selbständig zu existieren. Das für mich wertvollste Phänomen ist das "Wunder der Geburt" einer Arbeit. Wenn so etwas passiert, heißt das, daß die denkbar organischste Verbindung aller Mittel zu einem ganzheitlichen Organismus vollzogen wurde, dessen Elemente alle von einer einheitlichen Energie durchdrungen sind. Dieses "Geborenwerden" ein­er Arbeit bestimmt alles.

L.M. Wie lange arbeiten Sie an einem Blatt?

P.D. Unterschiedlich. Aber ich arbeite schnell. Für eines brauche ich einen ganzen Tag, für andere eini­ge Stunden. Es kann sein, daß ich später zu der Arbeit zurückkehre, wenn ich spüre, daß noch etwas präzisiert werden müßte. In dieser Hinsicht war für mich die Arbeit mit der Monotypie eine echte Lehre. Sie brachte mir eine maximale Konzentration bei. Wenn ich arbeite, gibt es mich nicht mehr, ich bin dann ganz dort.

L.M. Noch eine Frage, die mir sehr wichtig erscheint. Wenn Sie sich als ein Instrument empfinden, durch das etwas hindurchgeht, wo ist dann Ihr künstlerisches "Ich"?

P.D. Wenn man arbeitet, wenn man mit dem lebt, was einen gerade vollständig beschäftigt und einnim­mt, dann vergißt man alles. Am wenigsten denkt man in diesem Augenblick an sein "Ich".

L.M. Viele zeitgenössische Künstler beanspruchen das Recht auf Selbstausdruck, die Bestätigung und Behauptung ihres "Ichs", ihrer Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit nachgerade als den wichtigsten Wert ihrer Kunst.

P.D. Es mag erstaunlich erscheinen, aber sobald die Herausstellung des eigenen "Ichs" beginnt, endet und hört die Kunst auf. Es bleiben dann kalte, verkopfte, gequälte, ausgetüftelte, flache Sachen oder die pure Exaltation. Wozu das?

Seinem "Ich" eine derartige Bedeutung zuzumessen, ist entweder Betrug oder Selbstverführung auf der Grundlage der Beschränktheit der Person selbst. Das ist doch eine Tragödie. Jemand anderen kann man vielleicht noch betrügen, aber doch nicht sich selbst! Als ob man sein Leben damit vertändeln könnte, jemanden zum Staunen zu bringen, auf die Leidenschaften zu spekulieren, sich mit leeren Spielen, mit Zeitvertreib abzugeben... Wozu? Wir haben so viele Probleme beim gegenseitigen Verstehen, bei der Notwendigkeit, einander näherzukommen.

Es ist doch eher nachzuvollziehen, daß man daran Freude empfindet. Was ist da nicht alles verschüttet, was muß da nicht alles angepackt werden...

L.M. Wir sprechen von der Situation, wo, wie Sie sich ausdrücken, das "Ich" herausgestellt wird. Aber es kann doch in der Kunst tatsächlich kein "Ich" geben.

P.D. Natürlich kann es kein "Ich" geben. Denn das "Ich" kann es nur in der Selbstentsagung geben. Nur da kann dieses "Ich" entstehen, das echte "Ich".

Mir ist es durchaus nicht gleichgültig, mit welchen Augen wir die Welt betrachten. Mir ist der Mensch wichtig, die Atmosphäre der Welt, d.h. wie wir mit den heutigen Problemen fertigwerden und welche Aura wir nach uns hinterlassen. Wir haben keine Alternative. Nicht zum ersten Mal heißt es: Zögert nicht, Gutes zu tun, denn das allein ermöglicht euch zu überleben. Das ist eine Deklaration, aber so ist es doch tatsäch­lich.